Nutzen wir nur 10 Prozent unseres Gehirns?

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Fragt man eine zufällig ausgewählte Gruppe von Menschen, was sie über das Gehirn wissen, wird die häufigste Antwort sein, dass wir nur 10 Prozent seiner Kapazität nutzen. Dieser Glaube lässt Neurowissenschaftler auf der ganzen Welt erschaudern. Der Zehn-Prozent-Mythos entstand vor mehr als einem Jahrhundert in den USA und wird heute von der Hälfte der Bevölkerung in so fernen Ländern wie China, Nepal, Brasilien und Russland geglaubt.

Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Gehirn erforschen, ergibt diese Vorstellung jedoch überhaupt keinen Sinn: Das Gehirn ist ein hocheffizienter Apparat, und so ziemlich alles, was darin vorkommt, scheint notwendig zu sein. Um sich so lange halten zu können, muss der Mythos etwas aussagen, das wir wirklich hören wollen. Seine beeindruckende Hartnäckigkeit könnte von seiner optimistischen impliziten Botschaft abhängen: “Wenn wir normalerweise nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen, stell dir vor, was wir tun könnten, wenn wir auch nur einen winzigen Teil der anderen 90 Prozent nutzen könnten”. Das ist sicher ein verlockender Gedanke und irgendwie auch gerecht. Denn wenn jeder so viel freie Gehirnkapazität hat, gibt es keine dummen Menschen mehr, sondern nur noch einen Haufen potenzieller Einsteins, die nicht gelernt haben, genug von ihrem Gehirn zu nutzen.

Diese Art von Optimismus wurde von Selbsthilfe-Gurus ausgenutzt, um eine endlose Reihe von Programmen zur Verbesserung der Gehirnleistung zu verkaufen. Dale Carnegie nutzte diese Idee in den 1940er Jahren, um seine Bücher zu verkaufen und seine Leser zu beeinflussen. Er nährte den Mythos, indem er die Idee dem Begründer der modernen Psychologie, William James, zuschrieb. Doch niemand hat die 10-Prozent-Zahl in James’ Schriften oder Reden gefunden. James sagte seinen berühmten Zuhörern, dass die Menschen mehr geistige Ressourcen hätten, als sie nutzten. Vielleicht hat ein geschäftstüchtiger Zuhörer die Idee durch die Angabe eines Prozentsatzes wissenschaftlicher klingen lassen.

Diese Vorstellung ist besonders bei Menschen beliebt, die sich für außersinnliche Wahrnehmung und andere übersinnliche Phänomene interessieren. Gläubige verwenden oft den 10 %-Mythos, um die Existenz solcher Fähigkeiten zu erklären. Es ist nichts Neues, einen Glauben außerhalb der Wissenschaft mit einer wissenschaftlichen Tatsache zu begründen, aber es ist besonders ungeheuerlich, wenn die “wissenschaftliche Tatsache” selbst als falsch bekannt ist.

Tatsächlich benutzen wir jeden Tag unser gesamtes Gehirn. Wenn große Teile des Gehirns nie benutzt würden, würde eine Schädigung keine nennenswerten Probleme verursachen. Dies ist empirisch nicht der Fall. Funktionelle bildgebende Verfahren, mit denen die Gehirnaktivität gemessen werden kann, zeigen auch, dass einfache Aufgaben ausreichen, um das gesamte Gehirn zu aktivieren.

Eine mögliche Erklärung für die Entstehung des 10-Prozent-Mythos ist, dass die Funktionen bestimmter Hirnregionen so komplex sind, dass die Auswirkungen einer Schädigung sehr subtil sind. Beispielsweise können Menschen mit einer Schädigung der Frontallappen der Großhirnrinde oft noch die meisten normalen Handlungen des täglichen Lebens ausführen, aber sie sind nicht in der Lage, das richtige Verhalten im richtigen Kontext zu wählen. Ein solcher Patient könnte zum Beispiel mitten in einer wichtigen Geschäftsbesprechung aufstehen und nach draußen gehen, um sich etwas zu essen zu holen. Es versteht sich von selbst, dass solche Patienten Schwierigkeiten haben, sich in der Welt zurechtzufinden.

Frühe Neurowissenschaftler hatten möglicherweise Schwierigkeiten, die Funktionen der Frontalhirnbereiche zu verstehen, unter anderem weil sie mit Labormäusen arbeiteten. Im Labor haben Mäuse ein ziemlich einfaches Leben. Sie müssen ihr Futter und Wasser sehen, dorthin laufen und fressen können. Ansonsten müssen sie nicht viel tun, um zu überleben. Nichts davon erfordert die frontalen Bereiche des Gehirns, und einige frühe Neurowissenschaftler kamen auf die Idee, dass diese Bereiche vielleicht gar nicht viel tun. Spätere, ausgefeiltere Tests haben diese Ansicht widerlegt, aber der Mythos hatte sich bereits durchgesetzt.

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