Pinkeln oder nicht pinkeln?

0
56

Während der Fahrt wird das Bewusstsein durch ein Kribbeln im Unterleib gestört. Die vor einer Stunde konsumierte, überdurchschnittlich große Menge an Cola hat sich ihren Weg durch die Nieren in die Blase bahnt. In diesem Moment wird dir bewusst, dass es erforderlich ist, nach rechts abzubiegen, und du beginnst, nach einer geeigneten Ausfahrt zu suchen.

Für die Mehrheit der Menschen stellt das Anhalten an einer Autobahnraststätte eine alltägliche Erfahrung dar. Es ist jedoch bemerkenswert, wie das Gehirn die Signale der Blase verarbeitet, sie mit externen Reizen wie Geräuschen und dem Anblick der Straße kombiniert und diese Informationen nutzt, um eine angemessene Entscheidung zu treffen. In diesem Fall ist es die Entscheidung, eine sichere und sozial akzeptierte Umgebung zum Urinieren zu finden. Dies ist ein Beispiel für eine der bemerkenswerten Leistungen des Gehirns.

In der Vergangenheit ging die Wissenschaft davon aus, dass die Steuerung der Blase durch einen relativ einfachen Reflex erfolgt, der die Urinspeicherung und -abgabe reguliert. Heutzutage ist jedoch bekannt, dass dieses System deutlich komplexer ist. Ein komplexes Netzwerk von Hirnregionen, das an Funktionen wie Entscheidungsfindung, soziale Interaktion und Wahrnehmung des inneren Zustandes des Körpers, der sogenannten Interozeption, beteiligt ist, ist an der Entscheidungsfindung beteiligt.

Das System ist nicht nur außerordentlich komplex, sondern auch anfällig. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass mehr als einer von zehn Erwachsenen an einer überaktiven Blase leidet. Diese Symptomkonstellation umfasst Harndrang, Nykturie (nächtlicher Harndrang) und Inkontinenz. Obgleich bestehende Behandlungsformen die Symptome bei einigen Betroffenen lindern können, zeigen sie bei vielen Menschen keine Wirkung. Die Entwicklung besserer Medikamente hat sich als derart schwierig erwiesen, dass alle großen Pharmaunternehmen ihre Forschungsbemühungen eingestellt haben.

In jüngster Zeit hat jedoch eine Welle neuer Forschungsarbeiten das Feld für neue Hypothesen und Behandlungsansätze geöffnet. Während sich die Therapien für Blasenstörungen in der Vergangenheit auf die Blase selbst konzentrierten, deuten die neuen Studien darauf hin, dass das Gehirn ein weiteres potenzielles Ziel sein könnte. In Kombination mit Studien, die darauf abzielen, zu erklären, warum bestimmte Gruppen, wie Frauen nach der Menopause, anfälliger für Blasenstörungen sind, legt die Forschung nahe, dass Symptome wie Inkontinenz nicht einfach als unvermeidlich hingenommen werden sollten. Oftmals wird postuliert, dass derartige Problematiken eine unvermeidbare Konsequenz des Älterwerdens darstellen, insbesondere bei Frauen. Diese Annahme ist in gewissem Umfang korrekt. Jedoch können viele der üblichen Probleme vermieden und erfolgreich behandelt werden. Es besteht keine Notwendigkeit, mit Schmerzen oder Beschwerden zu leben.

Ein empfindliches Gleichgewicht

Die menschliche Blase weist eine bemerkenswerte Eigenschaft auf: Sie ist ein dehnbarer Beutel. Um sich vollständig zu füllen, was bei den meisten gesunden Erwachsenen eine Menge von 400 bis 500 Millilitern Urin entspricht, muss sie sich so stark ausdehnen wie kein anderes Organ im menschlichen Körper. Dabei vergrößert sie sich von ihrem leeren, faltigen Zustand aus um etwa das Sechsfache. Die Dehnung der glatten Muskelwand, welche die Blase umgibt und als Detrusor bezeichnet wird, erfordert eine Entspannung derselben. Gleichzeitig ist eine Kontraktion der Schließmuskeln, welche die untere Öffnung der Blase oder Harnröhre umgeben, erforderlich, wobei dieser Vorgang in der wissenschaftlichen Literatur als Schutzreflex bezeichnet wird.

Die Blase befindet sich zu mehr als 95 % der Zeit im Speicherzustand, sodass Undichtigkeiten bei den täglichen Aktivitäten nahezu ausgeschlossen werden können. Zu einem späteren Zeitpunkt, der idealerweise mit dem Bedürfnis zur Blasenentleerung korreliert, erfolgt die Umschaltung des Organs vom Speicher- in den Abgabemodus. Dazu ist eine kräftige Kontraktion des Schließmuskels erforderlich, um den Urin auszustoßen, während sich die Schließmuskeln um die Harnröhre gleichzeitig entspannen, um den Urin abfließen zu lassen.

Ein Jahrhundert lang haben sich Physiologen darüber gewundert, wie der Körper den Wechsel zwischen Speicherung und Freisetzung koordiniert. In den 1920er Jahren machte sich der Chirurg Frederick Barrington vom University College London auf die Suche nach dem Ein-Aus-Schalter im Hirnstamm, dem untersten Teil des Gehirns, der mit dem Rückenmark verbunden ist. Barrington führte seine Experimente an betäubten Katzen durch, wobei er mit einer elektrisch geladenen Nadel leicht unterschiedliche Bereiche in der Brücke, einem Teil des Hirnstamms, der für lebenswichtige Funktionen wie Schlaf und Atmung zuständig ist, beschädigte.

Als die Katzen wieder zu sich kamen, stellte Barrington fest, dass einige von ihnen den Drang verspürten, zu urinieren, jedoch nicht in der Lage waren, dies willentlich zu tun. Katzen mit Läsionen in einem anderen Teil des Pons schienen dagegen das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Urinierens verloren zu haben. Die Uriniervorgänge erfolgten zufällig und waren mit einer gewissen Erschrockenheit verbunden. Dies lässt den Schluss zu, dass der Pons eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Harnfunktion spielt und der Blase den Befehl zur Urinabgabe erteilt.

Jenseits des Barrington-Kern

Barringtons Forschungsarbeit legte den Grundstein für das heutige Verständnis der neuronalen Schaltkreise der Blasensteuerung. Allerdings ist mittlerweile bekannt, dass neben dem Pons eine Vielzahl weiterer Hirnstrukturen an diesem Prozess beteiligt ist.

Bei einer Blasenfüllung werden Dehnungsrezeptoren in der Blasenmuskulatur und in den inneren Schichten der Blasenwand aktiviert, welche Signale an das Rückenmark und von dort an einen Teil des Hirnstamms, das sogenannte periaqueduktale Grau, senden. Von dort werden die Signale an eine Region weitergeleitet, die als Insula (Insel) bezeichnet wird und als eine Art Sensor fungiert. Mit zunehmender Füllung der Blase steigt die Anzahl der Neuronen in der Insel, die winzige elektrische Impulse als Aktionspotenziale abfeuern.

Im Anschluss erfolgt eine Berechnung durch eine Region des Gehirns, die für die Planung und Entscheidungsfindung zuständig ist, der präfrontale Cortex, ob ein sozial akzeptabler Moment zum Urinieren gegeben ist. Bei einer positiven Antwort wird ein Signal an das periaquäduktale Grau gesendet, welches seinerseits ein Signal an den von Barrington bei Katzen identifizierten Teil der Pons sendet, der in der Folge als Barrington-Kern bezeichnet wird. Das Signal wird an die Blase weitergeleitet, sodass die Urinabsonderung initiiert wird.

In den vergangenen zehn Jahren haben hochpräzise Instrumente zur Kartierung der Verbindungen und Interaktionen zwischen verschiedenen Hirnregionen das Bild noch detaillierter gemacht. In der Forschung wurde eine Technik eingesetzt, mit der die elektrische Aktivität von Neuronen an mehreren Stellen im Gehirn gleichzeitig überwacht und analysiert werden kann. Es konnte festgestellt werden, dass Neuronen im Locus coeruleus, einem Teil des Hirnstamms, in einem gleichmäßigen, rhythmischen Muster feuern, wenn die Blase einen bestimmten Füllstand erreicht. Diese Aktivität breitet sich wellenförmig in der äußeren Schicht des Gehirns, der Hirnrinde, aus und versetzt das Gehirn etwa 30 Sekunden vor dem Wasserlassen in einen aufmerksameren Zustand. Die hier präsentierten Beobachtungen könnten zur Entwicklung von Behandlungsmethoden für häufige Probleme wie Nykturie und Bettnässen beitragen. Darüber hinaus könnten sie auch dazu beitragen, etwas Grundlegendes zu erklären, mit dem die meisten Menschen bereits konfrontiert waren.

Der Locus coeruleus fungiert als eine Art „innerer Wecker“, der dir sagt: „Hör auf mit dem, was du gerade tust, und konzentriere dich auf das hier.“ Dies ist ein Grund dafür, dass Menschen aufwachen, wenn sie urinieren müssen.

Lerne es zu halten

Die Kontrolle über die Harnblasenentleerung muss sich erst entwickeln, wie jeder bestätigen kann, der schon einmal ein Kleinkind stubenrein bekommen hat. Bei der Geburt wird das Urinieren nicht vom Gehirn gesteuert, sondern von einem Reflex, der ausgelöst wird, wenn die Blase eine bestimmte Kapazität erreicht. Erst im Alter von etwa drei oder vier Jahren werden die für Funktionen wie soziales Bewusstsein und Entscheidungsfindung zuständigen Gehirnregionen aktiv und setzen sich somit über den Reflex hinweg.

Eine Beobachtung des Prozesses im Stammhirn von Säuglingen ist nicht möglich. Die Untersuchung eines ähnlichen Prozesses bei jungen Mäusen, die etwa drei bis fünf Wochen nach der Geburt die Kontrolle über ihre Blasenfunktion erlangen, zeigt jedoch, dass die jungen Mäuse anfangen, in eine bestimmte Ecke zu pinkeln – ein Verhalten, das dem eines Kleinkindes, das bereits die Toilette benutzen kann, nicht unähnlich ist. Es ist bemerkenswert, dass der primitivere, automatische Wirbelsäulenreflex, den wir als Säuglinge haben, nie vollständig verschwindet. Bei einer Rückenmarksverletzung, bei der die Nerven beschädigt werden, die Signale zwischen der Blase und dem Gehirn übertragen, kann der Reflex wieder auftreten und häufig zu Inkontinenz oder anderen Problemen führen, die die Verwendung eines Katheters erforderlich machen.

Verletzungen des Rückenmarks stellen lediglich eine von zahlreichen Möglichkeiten dar, wie die Kommunikation zwischen Gehirn und Blase beeinträchtigt werden kann. Mit zunehmendem Alter des Gehirns können auch die langen, spindelförmigen neuronalen Projektionen, welche Nachrichten in und zwischen den Regionen, die das Wasserlassen steuern, übertragen, ihre Integrität verlieren und die normale Blasenfunktion beeinträchtigen. Dieser Prozess wird bei Parkinson und Alzheimer häufig beschleunigt.

Wie kommt es also, dass die Gehirnmechanismen, die das Wasserlassen steuern, versagen?

Im Rahmen einer Studie untersuchte die Medizinphysikerin Becky Clarkson von der Universität Pittsburgh gemeinsam mit ihren Kollegen Schwankungen des Sauerstoffgehalts im Blut mit dem Ziel, die aktiven Teile des Gehirns zu identifizieren sowie die Ursachen eines etwaigen Versagens der eleganten Gehirnmechanismen, welche die Blasenaktivität steuern, zu ergründen. Die Mehrheit der Studienteilnehmerinnen gehörte der Altersgruppe über 60 Jahre an und wies somit die höchste Prävalenz für Blasenhyperaktivität auf. In der Gesamtbevölkerung leiden etwa 11 % an einer überaktiven Blase, wobei der Anteil bei Frauen nach der Menopause mit über 45 % deutlich höher liegt.

Die wissenschaftliche Forschung hat bislang keine eindeutige Ursache für das Syndrom der überaktiven Blase identifiziert. Zudem ist unklar, warum das Syndrom bei älteren Frauen so häufig auftritt. Einige Wissenschaftler führen dies auf Veränderungen in der Blase selbst zurück. Es konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass sich während der Wechseljahre eine Vielzahl von Immunzellen zu winzigen Klumpen formt, die in ihrer Struktur Lymphknoten in der weiblichen Blasenwand ähneln. Diese Läsionen erhöhen die Empfindlichkeit der Blase gegenüber selbst geringen Mengen von E. coli, dem Bakterium, das die meisten Harnwegsinfektionen verursacht, und führen zu chronischen Blasenschmerzen oder dem Syndrom der überaktiven Blase.

Ein weiterer wesentlicher Faktor für das Syndrom der überaktiven Blase bei Frauen und Männern ist die Detrusorüberaktivität, welche durch unregelmäßige Kontraktionen des Blasenmuskels charakterisiert ist. Diese Kontraktionen senden falsche Signale an das Gehirn. Die meisten bestehenden Behandlungsmethoden zielen darauf ab, diese Krämpfe zu lindern. Die am häufigsten verschriebenen Medikamente, die Antimuskarinika, blockieren die Aktivität von Acetylcholin, einem chemischen Botenstoff, der beispielsweise die Detrusorkontraktionen auslöst.

Die Behandlung der Detrusoraktivität kann mit unerwünschten Nebenwirkungen einhergehen. In seltenen Fällen kann die Fähigkeit zur Urinabgabe beeinträchtigt werden. Die Behandlung muss daher mit Vorsicht erfolgen, da eine zu hohe Dosierung zu einer Blockade der Blase führen kann, während eine zu niedrige Dosierung zu einer unzureichenden Speicherung des Urins führt. Antimuskarinika wurden mit Symptomen des kognitiven Verfalls in Verbindung gebracht, insbesondere bei älteren Menschen, was Sicherheitsbedenken aufwirft. Zudem ist nicht jeder, der an einer überaktiven Blase leidet, auch zwangsläufig von einem überaktiven Detrusormuskel betroffen. Diesbezüglich äußern einige Wissenschaftler die Vermutung, dass das Problem bei manchen Patienten nicht an der Blase, sondern an anderer Stelle im Körper, beispielsweise im Gehirn, liegt.

Sicher zu Hause

Der Drang, die Toilette aufzusuchen, kann bereits nach einem langen Arbeitstag auftreten, insbesondere in dem Moment, in dem die Haustür geöffnet wird. Dieser Zusammenhang zwischen Gehirn und Blase ist bereits seit längerer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Diese Art von Drang wird in der Literatur auch als Latchkey-Inkontinenz bezeichnet. Dabei ist zu betonen, dass es sich hierbei nicht um einen durch die Füllmenge der Blase bedingten Harndrang handelt.

Es wird angenommen, dass die dringenden Empfindungen, die das Syndrom der überaktiven Blase charakterisieren, konditionierte Reaktionen sein könnten, wie sie der russische Physiologe Iwan Pawlow in den 1890er Jahren erzeugte, als er Hunde darauf trainierte, Nahrung mit dem Geräusch eines Metronoms zu verbinden. Bei manchen Menschen könnte diese Konditionierung darin bestehen, dass sie jahrelang darauf warten, nach Hause zu kommen, um dort auf die Toilette zu gehen, damit sie ihr eigenes Badezimmer benutzen können. Bei anderen kann es durch eine Vielzahl von Situationen und Auslösern wie das Geräusch von fließendem Wasser entstehen. Wenn solche intensiven Empfindungen nur gelegentlich auftreten, ist dies als normal zu betrachten. Treten derartige Symptome jedoch gehäuft auf, wird dies von Forschenden als potenziell besorgniserregendes Symptom erachtet.

Bei Frauen mit interaktiver Blase konnten in bildgebenden Verfahren des Gehirns, sogenannten funktionellen Magnetresonanztomographien (fMRT), häufig Muster der Gehirnaktivität beobachtet werden, die von den üblichen Mustern abweichen. In einem typischen Experiment werden die Studienteilnehmer flach in der fMRT-Maschine positioniert, während ein Katheter Flüssigkeit in die Blase einführt, bis diese einen bestimmten Füllstand erreicht hat. Ein Techniker entnimmt eine definierte Menge an Flüssigkeit und ersetzt sie, wobei der Vorgang mehrfach wiederholt wird. Auf Basis dieser Erkenntnisse haben Clarkson und andere Forscher ein Modell entwickelt, welches die Steuerung der Blase durch das Gehirn erklärt. Dabei werden auch Regionen wie die Insel einbezogen, welche die Signale der Blase verarbeitet, sowie die präfrontale Hirnrinde, welche die Entscheidung trifft, ob der richtige Zeitpunkt und Ort zum Urinieren gegeben ist.

Zwei weitere Regionen, der ergänzende motorische Bereich sowie der anteriore cinguläre Cortex, scheinen in Kooperation zu treten, um die Dringlichkeit des Harndrangs zu evaluieren und die für die Retention des Urins bis zur nächsten Möglichkeit erforderlichen Beckenbodenmuskelkontraktionen zu initiieren. Diese Bereiche sind bei manchen Menschen mit überaktiver Blase aktiver, was möglicherweise zu dem überwältigenden Gefühl der Dringlichkeit beiträgt, selbst wenn die Blase nur teilweise gefüllt ist. Dies kann mit einer Panikstation verglichen werden. Wenn eine Person dringend muss, muss sie gehen.

Vor einigen Jahren bemerkte einer von Clarksons Kollegen, dass die intensiven Dränge bei überaktiver Blase dem Verlangen ähneln, das ehemalige Raucher in bestimmten Situationen verspüren, wie beispielsweise in einer Bar, in der sie früher geraucht haben. Clarkson war neugierig geworden und schloss sich mit der Forscherin Cynthia Conklin von der Universität Pittsburgh zusammen, die sich mit der Raucherentwöhnung befasst. Zur Untersuchung der Reaktion von Frauen mit überaktiver Blase auf persönliche Auslöser wurde eine Methode aus Raucherstudien adaptiert. Den Teilnehmerinnen wurden Fotos von Orten präsentiert, die bei ihnen das Gefühl des Harndrangs auslösten, wie ihre Haustür oder in einem Fall der Eingang eines Supermarkts. Im Vergleich zu „sicheren“ Fotos konnte beim Betrachten der Auslöser eine erhöhte Aktivität in den Hirnregionen beobachtet werden, die mit Aufmerksamkeit, Entscheidungsfindung und Blasenkontrolle assoziiert werden.

Es gibt Hinweise darauf, dass bestimmte Verhaltenstherapien dazu beitragen können, die Reaktion von Frauen mit überaktiver Blase auf ihre Dringlichkeitsauslöser zu verändern. Dies geht aus vorläufigen Daten hervor, die von Clarkson und ihrem Team veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Achtsamkeitstechniken wie eine Körper-Scan-Meditation, bei der die Teilnehmer von Kopf bis Fuß entspannen, die Intensität der Blasensensationen verringern können. Des Weiteren konnte nachgewiesen werden, dass eine nicht-invasive Form der Hirnstimulation, die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), die Dringlichkeit lindern kann.

Ursachen einer überaktiven Blase

Die Mehrheit der Forscher ist sich einig, dass das größte Hindernis bei der Suche nach wirksameren Behandlungsmethoden für das Syndrom der überaktiven Blase darin besteht, dass die Diagnose so unklar ist. Es handelt sich nicht um eine einzelne Erkrankung, sondern um eine lose Gruppe von Symptomen, die durch eine Vielzahl von Erkrankungen verursacht werden können. Dazu zählen beispielsweise die Parkinson-Krankheit, Rückenmarksverletzungen und Diabetes, aber auch andere Erkrankungen. Allerdings werden die Fälle häufig in einen Topf geworfen und somit als ein und dasselbe Krankheitsbild behandelt.

Ein wesentlicher Faktor für die Empfindlichkeit des Urothels ist die Präsenz zahlreicher Ionenkanäle in den Zellen, die durch mechanische Aktivierung geöffnet werden. Diese Kanäle werden durch Proteine in der Zellmembran gebildet und stellen quasi die Öffnungen in der Zellmembran dar. Bei einer Dehnung, Druck oder Verformung der Zellmembran öffnen sich diese Kanäle und ermöglichen den Durchfluss positiv geladener Ionen in die Zelle.

Sensorische Neuronen, die sich bis in das Urothel erstrecken, enthalten diese kraftmessenden Kanäle. Bei Erreichen eines bestimmten Schwellenwerts des Zustroms positiver Ionen in diesen Nerven erfolgt eine direkte Kommunikation mit den Nerven in der Wirbelsäule und im Gehirn durch elektrische Impulse. Es ist bemerkenswert, dass auch nicht-neuronale Zellen im Urothel eine beachtliche Anzahl mechanisch aktivierter Ionenkanäle enthalten. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass auch sie in der Lage sind, das Signal für eine gefüllte Blase zu senden.

Im Jahr 2023 wurde von Mickle die Optogenetik eingesetzt, bei der der Laserstrahl ausgewählte Zellen in Tieren aus der Ferne aktiviert oder deaktiviert. Dadurch war es möglich, einige dieser nicht-neuronalen Urothelzellen selektiv zu stimulieren. Dies reichte aus, um sensorische Neuronen zu aktivieren und Blasenkontraktionen auszulösen, was zuvor noch nie gelungen war. Mickle postuliert die Entwicklung eines drahtlosen optogenetischen Systems, welches die Aktivität bestimmter Arten von Blasen-Zellen beim Menschen kontinuierlich überwachen und modifizieren soll. Obwohl die Optogenetik-Technik bisher hauptsächlich bei Labortieren eingesetzt wurde, erforschen Forscher nun ihre Anwendung beim Menschen.

In anderen Forschungsgruppen werden die Kraftsensorkanäle in den Blasenmuskelzellen sowie andere Kanäle, die sich als Reaktion auf verschiedene nervensignalisierende Chemikalien und Hormone öffnen, als mögliche Angriffspunkte für Medikamente untersucht. Dazu zählt eine Gruppe von kraftsensorischen, propellerförmigen Proteinen, die als Piezo-Kanäle bezeichnet werden und eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung in der Blase spielen. Eine im Jahr 2020 in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlichte Studie demonstrierte, dass Menschen mit einer seltenen Mutation, die einen Typ dieser Kanäle, Piezo2, betrifft, zusätzlich zu anderen schwerwiegenden Defiziten, wie beispielsweise Gehschwierigkeiten, Schwierigkeiten haben, das Füllen ihrer Blase wahrzunehmen. Einige sind gezwungen, nach einem festen Zeitplan Wasser zu lassen oder ihre Blase beim Urinieren nach unten zu drücken.

Einige Wissenschaftler erhoffen sich, Piezo2-Kanäle zur Behandlung verschiedener Blasenstörungen einsetzen zu können. Ein Vorteil der gezielten Beeinflussung solcher Kanäle besteht laut Poole darin, dass sie „von Natur aus medikamentös beeinflussbar“ sind. Dies bedeutet, dass Forscher häufig kleine Moleküle finden können, die sie ein- oder ausschalten, selbst wenn sie normalerweise auf mechanische Reize reagieren.

Allerdings ist auch eine Kehrseite zu berücksichtigen: Wie andere Ionenkanäle, die von Forschenden in der Blase untersucht wurden, kommen Piezo2-Kanäle im gesamten Körper vor, auch in der Lunge, den Gelenken und im Herzen. Folglich wird jedes Medikament, das die Kanäle in der Blase beeinflusst, wahrscheinlich auch andere Körperteile beeinträchtigen und Sicherheitsprobleme verursachen. Michel verweist auf eine klinische Studie für ein Medikament, das auf eine andere Art von Ionenkanälen in der Blase wirkte – solche, die Kaliumionen in die Zellen ließen –, jedoch aufgrund von Leberproblemen, die sich herausstellten, eingestellt werden musste.

Es besteht zumindest die Möglichkeit, dieses Hindernis zu überwinden, zumindest in der Theorie. Eine Option wäre die Anwendung von Gentherapien, die speziell auf das Blasengewebe abzielen. Diese könnten entweder direkt in den Detrusormuskel injiziert oder über einen Katheter in die Harnröhre infundiert werden. Im Jahr 2023 publizierten Wissenschaftler vorläufige, jedoch ermutigende Daten aus einer klinischen Studie mit 67 Patienten zu einer Gentherapie, welche auf die Kaliumkanäle der Blase abzielt.

Obgleich Wissenschaftler, die sich auf die Blase und die Harnwege konzentrieren, traditionell getrennt von denen arbeiten, die das Rückenmark und das Gehirn erforschen, beginnen diese lange voneinander getrennten Bereiche, sich zu vernetzen und zusammenzuarbeiten, um weitere Teile des Puzzles Gehirn-Blase zusammenzusetzen. So hat sich Mickle beispielsweise kürzlich mit einem Neuroimaging-Labor zusammengetan, welches ihm dabei behilflich sein wird, zu beobachten, wie das Gehirn einer Maus auf die optogenetische Stimulation ihrer Urothelzellen reagiert.

LEAVE A REPLY

Please enter your comment!
Please enter your name here